BAG, Beschluss vom 22.03.2016, 1 ABR 12/14
Wird in einem Betrieb ein System durchgeführt, das die Strukturierung, Vereinheitlichung und Optimierung von Arbeitsprozessen sowie deren Rationalisierung zum Ziel hat, kann das mit einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG einhergehen. Es kommt insoweit aber auf die konkreten Maßnahmen und deren betriebliche Umsetzung an.
Der Fall:
Die Arbeitgeberin stellte in ihrem Werk in G Bremsbeläge für Automobil- und Industrieanwendungen her. Sie beschäftigte über 900 Arbeitnehmer und verfügte über einen Betriebsrat. Mit diesem verhandelte sie seit 2006 über das „H Operating System“ (H.O.S.), ein Verfahren zur Strukturierung, Standardisierung und Optimierung von Arbeitsabläufen. Seine Einführung und Anwendung war standardisiert (H.O.S. Standard Implementation Framework – S.I.F.) und in fünf aufeinander aufbauende Phasen gegliedert:
• „Phase 1 – Organisatorische Bereitschaft“ und „Phase 2 – Grundlagen und Planung“ waren u.a. beschrieben mit der Schaffung der organisatorischen Grundlagen, der Festlegung von Verantwortlichkeiten und Führungsteams, der Grundlagenanalyse und der Bestandsaufnahme der Lieferkette, der Einrichtung von Verbesserungsteams und der Erstellung ausführlicher Schulungs- und Implementierungspläne sowie der Entwicklung von Konzepten zur Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse.
• „Phase 3 – Lernen durch Beobachtung und Stabilisierung des Prozesses“ erfasste u.a. die Entwicklung standardisierter Arbeitsabläufe mithilfe von Arbeitsblättern, welche Vorgaben für die Reihenfolge der Erledigungsschritte einschließlich Zeitangaben enthielten, sowie die Gestaltung des Arbeitsumfelds.
• In „Phase 4 – Verbesserung der Arbeitsprozesse“ wurden u.a. auf der Grundlage einer internen Auswertung der ermittelten standardisierten Arbeits- und Produktionsabläufe Kennzahlen erstellt, die Hauptverfahren, Zeit, Maschinen- und Mitarbeiterauslastung betreffen und Verbesserungen umgesetzt. Weiterhin wurde ein System zur Erreichung höchstmöglicher Maschinenverfügbarkeit implementiert.
• „Phase 5 – Streben nach Qualität“ diente der Langzeiterprobung der zuvor entwickelten Arbeitsprozesse, wobei ein „Bronze-, Silber- und Goldstatus“ ausgewiesen waren.
Am 18.04.2008 vereinbarten die Arbeitgeberin und der Betriebsrat einen Teilinteressenausgleich über die Umsetzung der ersten drei Phasen des H.O.S. in bestimmten ausgewählten Bereichen. Am 20.06.2011 schlossen sie eine Betriebsvereinbarung über die werksweite Einführung der Phasen 1 bis 3 ab. Die Verhandlungen zu einem Interessenausgleich über die Einführung und Umsetzung aller Phasen scheiterten. Die daraufhin gebildete Einigungsstelle beschloss am 10.01.2013 einen Sozialplan mit dem Gegenstand „Betriebsvereinbarung ‚H.O.S.‘ – wirtschaftliche Nachteile“ (BV H.O.S.).
Diese regelte insbesondere einen Anspruch auf Abfindung der durch die Umstrukturierung des Arbeitsablaufs von betriebsbedingten Kündigungen betroffenen Arbeitnehmer sowie einen Anspruch von Arbeitnehmern, die ihren Arbeitsplatz aus betrieblichen Gründen wechseln mussten, auf Fortzahlung der bisherigen Bruttovergütung für die Dauer von fünf Jahren. Der Arbeitgeberin wurde ein Kündigungsrecht zugestanden, wenn bei ihrer Anwendung wegen des Gesamtbetrages der Sozialplanleistungen der Fortbestand des Unternehmens oder Arbeitsplätze des Betriebs gefährdet würden. Die Arbeitgeberin hatte den Spruch der Einigungsstelle gerichtlich angefochten und dabei sowohl Rechtsverstöße als auch eine fehlerhafte Ermessensausübung geltend gemacht. Sie vertrat insbesondere die Ansicht, mit dem Spruch sei ein Vorrats- oder Rahmensozialplan aufgestellt worden, für den die Einigungsstelle nicht zuständig gewesen sei.
Die Entscheidung:
Das Arbeitsgericht hatte dem Antrag des Arbeitgebers entsprochen. Das LAG gab der hierauf die Beschwerde des Betriebsrats jedoch statt. Der Arbeitgeber legte hiergegen Rechtsbeschwerde zum BAG ein und bekam Recht.
Das BAG stellte fest, dass die Einigungsstelle für die Aufstellung des mit der BV H.O.S. geschlossenen Sozialplans nicht zuständig und somit der Spruch der Einigungsstelle unwirksam war. Voraussetzung für einen erzwingbaren Sozialplan sei das Vorliegen einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG.
Nur dann habe die Einigungsstelle eine entsprechende Spruchzuständigkeit. Werde in einem Betrieb ein System durchgeführt, das die Strukturierung, Vereinheitlichung und Optimierung von Arbeitsprozessen sowie deren Rationalisierung zum Ziel hat, könne dies mit einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG einhergehen. Es käme insoweit aber auf die konkreten Maßnahmen und deren betriebliche Umsetzung an. In einem durch Spruch der Einigungsstelle zustande gekommenen Sozialplan könnten nur Regelungen über den Ausgleich oder die Milderung der durch eine konkrete geplante Betriebsänderung entstehenden wirtschaftlichen Nachteile getroffen werden.
Bestünden Unsicherheiten darüber, ob eine Betriebsänderung vorliege, könnten Arbeitgeber und Betriebsrat zwar einen Sozialplan für den Fall vereinbaren, dass es sich bei den Maßnahmen um eine Betriebsänderung handelt. Auch könnten sie Rahmen- oder Dauersozialpläne für künftige, noch nicht konkret geplante Betriebsänderungen schließen. Das Aufstellen solcher Sozialpläne fiele aber nicht unter § 111 ff. BetrVG. Dies sei freiwillig möglich, jedoch nicht erzwingbar.
Im vorliegenden Fall sah das BAG keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass sich der angefochtene Einigungsstellenspruch bereits auf eine konkrete Betriebsänderung bezog: So könne zwar jegliche Implementierung von (neuen) organisatorischen Konzepten, Methoden und Regeln zur Strukturierung, Vereinheitlichung und Optimierung von Arbeitsprozessen oder von Systemen zu deren Rationalisierung mit einer die Mitbestimmung des Betriebsrats auslösenden Betriebsänderung nach § 111 BetrVG einhergehen. Zwingend sei das aber nicht. Es käme insoweit auf die konkreten Maßnahmen und deren betriebliche Umsetzung an.
Zwar könne H.O. die Betriebsorganisation, die Arbeitsmethode und das Fertigungsverfahren betreffen (etwa durch Dokumentationen oder Analysen), es habe aber – für sich gesehen – keine einschneidenden Auswirkungen. Die konkret aus dem System resultierenden Rationalisierungen und Effektivierungen seien ergebnisoffen. H.O.S. gäbe insoweit keine Änderung vor, sondern beschreiben lediglich Methoden der Ermittlung und Erprobung. Ohne konkrete Umsetzungsergebnisse könne damit nicht von einer Betriebsänderung i.S.d. § 111 BetrVG ausgegangen werden.